„Corona hat viel möglich gemacht – das sollten wir nutzen“

Beim virtuellen Bürgerforum von „Neustart!“ diskutierten die Bürger:innen mit großem Engagement online. Dabei ging es um Fragen wie: Wie können Patient:innen mehr Mitsprache bekommen und was können wir aus der Pandemie lernen?

Robert Bosch Stiftung | November 2020

In vielerlei Hinsicht verändert die Coronavirus-Pandemie unseren Alltag, auch „Neustart!“, die Reformwerkstatt für unser Gesundheitswesen, bleibt nicht unberührt. In der ersten Runde des Bürgerdialogs im Mai 2019, trafen sich die zufällig ausgewählten Teilnehmenden noch zu Gesprächen in Veranstaltungsorten ihrer Heimatregionen. Am 14. November 2020 lud die Robert Bosch Stiftung zum virtuellen Dialog ein: Rund 300 Bürger:innen aus Bremerhaven, Magdeburg, Trier und Rosenheim sowie aus Teilen Brandenburgs und Sachsens diskutierten online mit. „Unsere Neustart!-Initiative setzt wesentlich auf die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern. Ihre Sichtweise auf das Gesundheitswesen ist wichtig für die Zukunft“, begrüßte Dr. Bernadette Klapper, Bereichsleiterin Gesundheit bei der Robert Bosch Stiftung, die Freiwilligen. „Vielen Dank, dass Sie bereit sind, mitzumachen.“  

„Fake News“ im Internet 

Die Reformwerkstatt arbeitet seit bereits rund zwei Jahren an Vorschlägen für ein neues Gesundheitswesen. Aufgabe der Geladenen in dieser Runde war es, Themen weiterzuentwickeln, die bereits in früheren Phasen der Initiative als wichtig befunden wurden. Es ging um Prävention und Gesundheitskompetenz, Diversität und Partizipation, solidarische Krankenversicherung und Caring Communities, Primärversorgungszentren und die Rolle der Kommunen. Für die Diskussionen wurden die Beteiligten zunächst in Videokonferenzen mit jeweils fünf Personen zusammen geschaltet. „Die Übersicht behalten: Massenmedial kommunizierte Gesundheitsinformationen besser einschätzen“, war eine der Gesprächsrunden betitelt. „Es gibt keinen Mangel an Information über Krankheiten und Behandlungsoptionen“, sagte Teilnehmerin Theda von Graeve. „Wenn ich ein Problem habe, warte ich nicht bis zum Arzttermin. Ich mache mich im Internet schlau, da findet man häufig nützliche Infos. Leider stößt man aber auch oft auf Fake News, die Menschen verunsichern können oder die sogar gefährlich sind.“

Titel_Bürgerforum
Foto: Robert Bosch Stiftung

Weniger Unterhaltung, mehr Information

Die Gruppe war sich einig: Die Coronavirus-Pandemie habe den Wert seriöser Medien deutlich gemacht. Viele Zeitungen würden gewissenhaft über Covid-19 berichten. „Aber damit erreicht man die meisten jungen Leute nicht“, gab Jörg Hulverscheidt zu bedenken. Die würden sich eher im Internet informieren. Dort stießen sie allerdings nicht immer auf neutrale Quellen, sagte Gesche Vigh. „Viele YouTuber lassen sich für ihre Empfehlungen von den Anbietern bezahlen. Das sind für mich keine zuverlässigen Quellen.“ Der öffentlich-rechtliche Rundfunk trage in dieser Situation eine besondere Verantwortung, sagten mehrere Teilnehmende und wünschten sich dort: „Weniger Unterhaltung, mehr Information“. Zugleich begrüßten sie die Einführung des „Nationalen Gesundheitsportals“. Doch nicht alle Beteiligten kannten das neue Internet-Angebot des Bundesgesundheitsministeriums schon vor der Teilnahme am Bürgerforum. „Davon hatte ich noch nie etwas gehört“, sagte eine Teilnehmerin. „Dafür müsste mehr Werbung gemacht werden.“

„Der Ansprechpartner ist nicht greifbar“ 

Am Ende der lebhaften 45-minütigen Diskussion notierten die Bürger:innen ihre Anmerkungen zum Thema. Für die nächste Runde wurde die Zusammensetzung der Gruppen neu gemischt, nun ging es darum, Beiträge der ersten Runde zu kommentieren und weiterzuentwickeln. Eine Gruppe befasste sich mit dem Thema „Patientenpartizipation stärken: Das Gesundheitssystem nutzerfreundlich und transparent gestalten“. „Ich erlebe es häufig so, dass der Arzt in der Sprechstunde mit lateinischen Begriffen um sich schmeißt, ohne sich die Zeit zu nehmen, sie zu erklären. Die googele ich dann zu Hause“, sagte Teilnehmer Martin Eisenführer. „Ich kenne die andere Seite“, berichtete Sabine Knauth, die als Physiotherapeutin arbeitet. „Wenn ich erkläre, was ich mache, werden von den Patientinnen und Patienten selten Fragen gestellt.“ Teilnehmerin Melanie Klettl ergänzte: „Oft hat man im ersten Augenblick keine Fragen, die kommen meist erst hinterher. Dann ist aber kein Ansprechpartner mehr greifbar.“ 

Videosprechstunde für Gesundheitsfragen 

Aus Sicht der Gruppe sind die wenigen Minuten bei Hausärzt:innen meist nicht ausreichend, um den Informationsbedarf der Patient:innen zu decken. Dafür müssten ergänzende Angebote geschaffen werden. „Ich betreue beruflich ältere Menschen, die oft überfordert sind, wenn sie mit ihrer Diagnose konfrontiert werden. Manche Ärzte geben den Patienten Informationsmaterial mit, mit dem sie sich zu Hause in Ruhe befassen können“, berichtet Melanie Klettl. „Leider erlebe ich das viel zu selten.“ Martin Eisenführer sagte: „Corona hat viel möglich gemacht, zum Beispiel Videosprechstunden.“ Die könnten aus seiner Sicht auch im Versorgungsalltag genutzt werden, um die Fragen zu beantworten, die den Patient:innen in der Sprechstunde nicht einfallen. Die nachträgliche Beratung müsse auch nicht immer von Ärzt:innen durchgeführt werden, ergänzte Teilnehmer Jan Choschzick. „Mir gefällt die Idee von lokalen medizinischen Versorgungszentren, in denen die verschiedenen Gesundheitsberufe zusammenarbeiten. Die Fachkräfte dort sollten auch eine Anlaufstelle für Fragen zur Gesundheit sein.“ 

Botschafter:innen tragen Ideen weiter 

Ähnlich wie bei der Vor-Ort-Premiere im vergangenen Jahr zeigten die Bürger:innen auch beim virtuellen Forum großes Engagement. Zum Abschluss folgte die Wahl der Bürgerbotschafter:innen. Sie werden die Ideen des Bürgerforums in den weiteren Prozess der Reformwerkstatt einbringen. Am Ende geht es schließlich darum, der Politik im Wahljahr 2021 konkrete Reformvorschläge auf den Tisch zu legen. Einer der neu gewählten Botschafter ist Timon Beck: „Es hat mich beeindruckt, wie konstruktiv die Diskussionen im virtuellen Bürgerforum verlaufen sind und wie viele gute Vorschläge dabei herausgekommen sind. Das hat mich motiviert, mich als Bürgerbotschafter aufstellen zu lassen.“