Gesundheit global denken
Im Think Lab diskutieren Expert:innen die Auswirkungen von Megatrends auf unser Gesundheitssystem
Tiefgreifende Veränderungsprozesse stellen unsere Gesellschaft und auch die Gesundheitsversorgung vor neue Herausforderungen. Zu diesen zählen unter anderem Globalisierung, Digitalisierung, Bio- und Gentechnologie, Ökonomisierung, Erderwärmung und der demografische Wandel. Im Rahmen des zweiten Think Labs der Initiative „Neustart!“ am 18. und 19. Juni diskutierten Fachleute aus unterschiedlichen Forschungs- und Arbeitsbereichen über die möglichen Folgen und wie sich unser Gesundheitssystem darauf einstellen sollte.
Chronische Erkrankungen weltweit auf dem Vormarsch
Professor Dr. Detlev Ganten, früherer Vorstandsvorsitzender der Charité und Gründer des World Health Summit in Berlin, forderte während des Expert:innentreffens in der Hertie School, Gesundheit als ganzheitliche Herausforderung zu betrachten. „Gesundheit ist mehr als Medizin. Die Hauptursachen für vorzeitiges Sterben sowie physisches und psychisches Leiden verschieben sich von Infektionskrankheiten hin zu weit verbreiteten, chronischen Krankheiten“, sagte Ganten. „Eine holistische Sicht auf die globale Gesundheit erfordert enge interdisziplinäre Zusammenarbeit von der Grundlagenforschung bis hin zu den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen. Klimawandel, Umweltzerstörung, Krieg, Wirtschaftskrisen, Flucht und Migration sind Faktoren, die zu den Gesundheitsproblemen in der Welt beitragen. Wir müssen lernen, Gesundheit holistisch und global zu denken und Verantwortung zu übernehmen.“
Ähnlich argumentierte Dr. Verina Wild vom Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Universität München. „Beim Thema Gesundheit dürfen wir nicht zu kleinteilig denken“, sagte sie. „Oft geht es in erster Linie um Akutversorgung: Wie behandeln wir den Menschen in der Klinik? Aber wenn wir über gesundes Leben sprechen, müssen wir beispielsweise auch Klimabedingungen oder den Einfluss unserer Lebensweise auf Nahrungsketten berücksichtigen. Plastikmüll, der im Meer und dann in Fischen landet, und zunehmende Hitzeperioden haben Auswirkungen auf unsere Gesundheit.“
Bio- und Gentechnologie setzt gesellschaftliche Akzeptanz voraus
In die Bio- und Gentechnologie werden derzeit Milliardensummen investiert, da sie ganz neue Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten schaffen. Dr. Matthias Zuchowski, Arzt und Leiter der Abteilung für Medizinstrategische Entwicklung am Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhaus sagte, durch bessere Diagnostik und frühzeitige Therapie können einerseits die Gesundheitskosten gesenkt werden. „Andererseits können durch eine individualisierte Medizin, die auf den einzelnen Patienten zugeschnitten ist, höhere Kosten entstehen. Für die Akzeptanz dieser Technologien ist es entscheidend, ob alle Bürger von ihnen profitieren oder nur einige wenige, die es sich leisten können.“
Gesundheitsdaten sollten dem Gemeinwohl dienen
Ein anderer Megatrend unserer Zeit, die Digitalisierung, revolutioniert auch das Gesundheitswesen. Neben den Chancen auf neue Erkenntnisse durch Big Data sehen viele Menschen vor allem die Risiken durch den Missbrauch persönlicher, medizinischer Daten. Auf diesem Feld forscht Ernst Hafen, Professor für Systemgenetik an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich. „Unsere Daten sind sehr viel wert, private Unternehmen geben Milliarden dafür aus und erzielen dadurch riesige Gewinne. Wir müssen dafür sorgen, dass nicht einzelne Unternehmen, sondern die Allgemeinheit von der Nutzung unserer Daten profitiert.“
Damit meint Hafen sowohl genetische und medizinische Daten als auch Informationen über das Einkaufs- oder Freizeitverhalten, die – je nach Erkenntnisinteresse – mit den Gesundheitsdaten korreliert werden können. „Meine Idee ist, dass diese Daten nicht von kommerziellen Unternehmen ausgewertet werden, sondern von Genossenschaften, an denen sich die Nutzer freiwillig beteiligen können.“
Weitere Think Labs geplant
Das Think Lab zu den Megatrends war die zweite von insgesamt sieben Expert:innenrunden der Initiative „Neustart!“. An zwei Tagen wurden Veränderungstreiber wie Demografie, künstliche Intelligenz oder Bio- und Gentechnologie sowie ihre Wechselwirkungen analysiert. Ebenso erarbeiteten die Expert:innen Vorschläge zu den Fragen, worauf und wie das Gesundheitssystem der Zukunft vorbereitet sein muss, um angesichts veränderter Rahmenbedingungen leistungsfähig zu sein. Zwei zentrale Erkenntnisse waren, dass es künftig eines lernenden Gesundheitssystems bedarf, das flexibel und schnell auf Veränderungen und Einflüsse von außen reagieren kann. Außerdem forderten die Expert:innen, die Gesundheits- und Digitalkompetenz von Bürger:innen und Gesundheitsberufen zu stärken. Die Ergebnisse des Think Labs werden in den weiteren Projektverlauf einfließen und unter anderem im kommenden Jahr im Rahmen weiterer Bürgerdialoge reflektiert.
„Ich bin beeindruckt, wie konzentriert und lösungsorientiert die Expert über Fachgrenzen hinweg diskutiert haben, wie die Megatrends in ihren Auswirkungen zusammenhängen und in welcher Hinsicht sie die Zukunft unserer Gesundheitsversorgung beeinflussen“, sagte Dr. Bernadette Klapper, Bereichsleiterin Gesundheit bei der Robert Bosch Stiftung. „Für unsere Reformwerkstatt war das ein wichtiger Baustein. Darüber hinaus hat, so zumindest mein Eindruck, auch jeder Teilnehmer noch etwas dazugelernt.“