„Das deutsche Gesundheitssystem ist zu arzt-zentriert“
Think-Lab-Expertin im Interview: Dr. Isabelle Scholl, Leiterin Forschungsgruppe „patientenzentrierte Versorgung“ am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)
„Neustart!“: Frau Scholl, Sie leiten eine Forschungsgruppe zur patientenzentrierten Versorgung. Sollte der Patient nicht generell im Zentrum der Gesundheitsversorgung stehen?
Isabelle Scholl: Das stimmt, es klingt etwas paradox. Aber leider steht der Patient eben nicht immer im Zentrum. Wir gehen davon aus, dass wir als Behandelnde den Menschen ganzheitlich wahrnehmen müssen. Patienten sollen über ihre Behandlung mitentscheiden können – wie müssen wir sie informieren, damit sie dazu fähig sind? Wie können wir die Kommunikation von Arzt und Patient verbessern? Wie können wir Patienten motivieren, bei ihrer Behandlung aktiv mitzuwirken? Welche Strukturen stehen dem im Weg? Mit solchen Fragen beschäftigen wir uns.
„Neustart!“: Sie haben einen Fokus auf Krebspatienten. Können Sie erklären, was Patientenorientierung hier bedeutet?
Isabelle Scholl: Durch den medizinischen Fortschritt verändert sich das Leben mit Krebs. Bestimmte Krebsarten, die früher schnell zum Tode führten, sind heute noch nicht heilbar, aber besser behandelbar. Das führt dazu, dass es immer mehr Patienten gibt, die über viele Jahre mit Krebs leben. Hier ist die Kontinuität der Versorgung – trotz ständiger Wechsel zwischen stationärer und ambulanter Behandlung – eine große Herausforderung. Dabei muss die Kommunikation zwischen den verschiedenen Akteuren gut funktionieren. Außerdem geht es um die Frage, wie ein Vertrauensverhältnis aufgebaut und erhalten werden kann. Die gleichen Fragen stellen sich natürlich auch bei anderen chronischen Krankheiten.
„Neustart!“: Das Think Lab diskutiert die Reform des Gesundheitssystems. Welche strukturellen Defizite begegnen Ihnen bei Ihrer Arbeit?
Isabelle Scholl: Das deutsche Gesundheitswesen ist immer noch sehr stark auf den Arzt und die Ärztin fokussiert. Stärker als in anderen Ländern geht das einher mit einer starken Hierarchisierung gegenüber anderen Gesundheitsberufen. Nehmen Sie zum Beispiel die in Krebszentren üblichen tumor boards. In Deutschland diskutieren dabei Ärzte verschiedener Fachrichtungen über die beste Therapie. In den USA sind diese tumor boards ganz selbstverständlich multiprofessionell besetzt, die Pflege etwa ist mit eingebunden, zum Beispiel 'nurse navigators' (Patientenbegleiter, Anm. d. Red.). Die verbringen mehr Zeit mit den Patienten, kennen ihn daher besser und können einen wichtigen Beitrag zur Behandlungsstrategie leisten. In Deutschland erleben Pflegende oft, dass ihre Meinung nicht gefragt ist.
„Neustart!“: Wie erleben Sie die Arbeit im Think Lab?
Isabelle Scholl: Es ist spannend, mit Experten so vieler unterschiedlicher Fachrichtungen zu diskutieren. Ich finde zum Beispiel die soziologische Perspektive, mit dem Fokus auf die unterschiedlichen Lebenswelten der Patienten, interessant. Manchmal ist es etwas herausfordernd, weil jeder Teilnehmer seine Fachsprache mitbringt und mit denselben Begriffen etwas anderes meint als der nächste. Aber ich habe den Eindruck, dass sich alle darauf einlassen und jeder eine Menge mitnehmen kann. In meiner Forschungsgruppe gilt der Grundsatz, nicht für die Patienten forschen, sondern mit ihnen. Ich finde gut, dass das auch für diese Reformwerkstatt gilt, denn neben den Expertenrunden gibt es ja auch Bürgerdialoge.