„Die Geldströme im Gesundheitssystem müssen umgeleitet werden“
Neustart!-Expert:innen diskutierten über finanzielle Fehlanreize und die notwendige Umsteuerung im deutschen Gesundheitswesen
„Es mangelt nicht an Geld im deutschen Gesundheitssystem – doch es wird häufig an den falschen Stellen ausgegeben!“ Diese Aussage von Prof. Dr. med. Reinhard Busse von der TU Berlin fasst zusammen, worüber die Podiumsgäste an diesem Abend debattierten. „Gesundheit, Gier, Gemeinwohl: Wie rechnet sich Krankheit?“ war das Motto der Runde, die sich im Rahmen der Initiative „Neustart! Reformwerkstatt für unser Gesundheitswesen“ in der Vertretung der Robert Bosch Stiftung in Berlin traf. Das Publikum konnte dieses Mal – bedingt durch Corona – nur virtuell dabei sein. Die Profis aus Medizin, Wirtschaft, Forschung und Politik suchten am Abend des 29. September Antworten auf die Fragen, die schon die Expert:innen des fünften Think Labs der Initiative beschäftigt hatten. Ein komplexes Thema – das zu den größten Herausforderungen jeder Reform zählt.
Finanzinvestoren nehmen Gesundheitsbranche immer stärker ins Visier
Dr. Christoph Scheuplein vom Institut Arbeit und Technik an der Westfälischen Hochschule berichtete in seinem Impulsvortrag über den Trend zu Übernahmen von ärztlichen Praxen durch Investoren in der ambulanten Versorgung von Patient:innen. In einer Studie hat er die zunehmenden Aktivitäten von Finanzinvestoren untersucht, die Kliniken, Praxen und andere Unternehmen des Gesundheitssektors aufkaufen. Die größten Transaktionen wurden im Bereich Pflegeheime und ambulante Dienste beobachtet, die meisten Übernahmen fanden in diversen fachärztlichen Bereichen statt, etwa in der Zahnmedizin, Augenheilkunde und Radiologie. Überwiegend sind es kapitalkräftige private Equity-Gesellschaften aus den europäischen Nachbarländern und aus den Vereinigten Staaten, die auf dem deutschen Markt aktiv sind, berichtete Scheuplein. Zwei Drittel der an den Übernahmen beteiligten Fonds hatten ihren Sitz in Steueroasen, wie zum Beispiel den Cayman Islands. „Wir müssen darüber diskutieren, ob wir wollen, dass die Beiträge der Versicherten als Gewinne dieser Gesellschaften in Offshore-Finanzzentren fließen.“
Gute Versorgung muss nicht im Krankenhaus stattfinden
Prof. Dr. med. Reinhard Busse von der TU Berlin, Fachgebiet Management im Gesundheitswesen, wies darauf hin, dass Deutschland eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt habe. „Wir haben nicht zu wenig, sondern eher zu viel Geld im System – das befördert die Gier der privaten Investoren“, sagte Busse. Einer der Gründe dafür, dass das deutsche Gesundheitswesen relativ teuer sei, ist für ihn, dass mehr Patient:innen als in anderen Ländern im Krankenhaus behandelt würden. „Bei uns werden oft auch Menschen mit Diabetes oder Hypertonie stationär versorgt, die auch gut und günstiger ambulant behandelt werden könnten. Der Grund für die Aufnahme ist meist, dass nur belegte Betten bezahlt werden“, sagte Busse. Die Krankenhauslandschaft müsse neu geordnet werden, wobei pro Landkreis zumeist ein Krankenhaus genüge – auch wenn „wohlmeinende Politiker“ dies mitunter anders darstellten. Die Bevölkerung könne auch anders gut versorgt werden, zum Beispiel durch ambulante Behandlungszentren. „Gleichzeitig dürfen Krankenhäuser nur die Leistung erbringen und für die Leistung bezahlt werden, für die sie technisch und finanziell ausgestattet sind“, stellte Busse fest.
Fehlanreize im Gesundheitssystem abschaffen
Martina Stamm-Fibich MdB, Patientenbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, betonte den solidarischen Grundgedanken des deutschen Gesundheitssystems. „Jeder Mensch in Deutschland hat Anspruch auf medizinische Versorgung und Absicherung im Krankheitsfall – unabhängig von Einkommen oder Wohnort.“ Doch die Solidarität werde immer mehr zurückgedrängt. „Aus Sicht der Patientinnen und Patienten wird die Ökonomisierung immer stärker erlebbar“, sagte Stamm-Fibich. Vor allem werde darüber geklagt, dass die Fachkräfte sich kaum Zeit für die Menschen nehmen könnten. „Auch viele Krankenhaus-Ärzte kommen auf mich zu und sagen: 'Der Druck ist kaum noch auszuhalten!'“ Wo Fehlanreize spürbar seien, müsse das System reformiert werden. „Ich bin zum Beispiel der Ansicht, dass die DRG (Diagnosebezogene Fallgruppen, d. Red.) bei Kindern und Jugendlichen von vorne herein unpassend waren.“ Stamm-Fibich betonte: „Es gibt viele Arbeitgeber (im Gesundheitswesen, d. Red.), die bereit sind andere, neue Wege zu gehen – beispielsweise die 35 Stunden Woche einzuführen und das Arbeiten in interdisziplinären Teams umzusetzen. Doch diese zielführenden und modernen Ansätze scheitern in unserem starren System. Das muss man aufbrechen.“
Qualität in der Pflege ist keine Frage der Unternehmensform
Qualität in der Versorgung und Betreuung sei keine Frage der Unternehmensform, sagte Sascha Saßen von Korian Deutschland, einem börsennotierten Pflege-und Betreuungsdienstleister. Das Unternehmen mit Hauptsitz in Paris betreibt in Deutschland 252 Pflegeeinrichtungen. „Niemand ist langfristig wirtschaftlich in der Pflege auf Kosten der Qualität und der Pflegekräfte erfolgreich“, sagte Saßen. Korian investiere mehr als zwei Drittel der Gewinne wieder in die Einrichtungen und in die Qualität der Pflege. Diese sei u.a durch den „Positive Care“- Ansatz von Korian sichergestellt. „Das Konzept stellt das Wohlbefinden der Bewohnerinnen und Bewohner in den Mittelpunkt – nach Möglichkeit unter Verzicht auf den Einsatz von Medikamenten. Respekt vor der Autonomie und Würde unserer Kunden sind der Ausgangspunkt unserer täglichen Arbeit.“ Respekt müsse man aber gleichermaßen gegenüber den Mitarbeitenden haben. Er begrüße die Diskussion über ein neues Selbstbewusstsein der Pflege, deren Arbeitsbedingungen weiter verbessert werden müssten.
Geldströme im System anders verteilen
Für bessere Arbeitsbedingungen der Gesundheits-Profis tritt auch „Twankenhaus“ ein. Der Verein, der von Menschen gegründet wurde, die in unterschiedlichen Berufen im Gesundheitswesen arbeiten, will auf die derzeitigen Missstände im Gesundheitswesen aufmerksam zu machen. "Die Arbeit in diesem System schadet der Gesundheit der Patienten und Patientinnenen ebenso wie der der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“, sagte Dr. med. Katharina Thiede, Vorstandsmitglied im Twankenhaus. „Das größte Problem ist, dass die Fachkräfte nicht genug Zeit für die Patientinnen und Patienten haben. Das belastet beide Seiten.“ Zudem sei die Bezahlung in vielen Gesundheitsberufen nicht angemessen. Die Geldströme im System müssten so verteilt werden, dass der sog. sprechenden Medizin mehr Raum zuteilwerden kann, forderte Thiede.
Soziale Aspekte der Gesundheit mitbedenken
Auch Susanne Mauersberg, Gesundheitsexpertin beim Verbraucherzentrale Bundesverband, sieht das jetzige System durch „Teufelskreissituationen“ belastet, etwa in Pflegeeinrichtungen. „Viele Menschen, die im Gesundheitssystem arbeiten, werden darin krank und gehen aus dem Beruf nach immer kürzerer Frist aus dem Job wieder heraus. Da nutzen uns die größten Ausbildungsoffensiven nichts“, stellte Mauersberg fest. Die Digitalisierung biete die Chance für Verbesserungen. „Es gibt gute Beispiele aus Einrichtungen, die ihre Bedarfsermittlung digitalisiert haben und die nun keine Personalnot mehr haben.“ Ein anderer wichtiger Aspekt, der im Gesundheitssystem zu wenig beachtet werde, sei die Berücksichtigung sozialer Faktoren. Hier könne Deutschland von den Gesundheitssystemen anderer Länder einiges lernen. „In Singapur ist nicht nur die Digitalisierung in der Gesundheit viel weiter vorangeschritten“, sagte Mauersberg. „Dort werden auch die sozialen Lebensumstände der Patientinnen und Patienten bei der Versorgung mitbedacht. Ich würde mir wünschen, dass wir uns für die Reform unseres Gesundheitswesens solche positiven Beispiele genau anschauen. Die Bürger müssen stärker einbezogen und beteiligt werden, besonders bei der Digitalisierung.“