„Pflegende sollten auch heilkundliche Tätigkeiten übernehmen“
Expertin im Interview: Prof. Dr. phil. Gabriele Meyer, Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
„Neustart!“: Frau Meyer, Pflegekräfte haben in Zeiten der Corona-Pandemie viel Anerkennung bekommen – zumindest verbal. Wie können wir erreichen, dass die Arbeit der Pflegenden in unserer Gesellschaft dauerhaft besser gewürdigt wird?
Gabriele Meyer: Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie wichtig hochqualifizierte und leistungsbereite Pflegefachpersonen für das Gesundheitssystem sind. Die Aufmerksamkeit, die die Pflegenden jetzt bekommen, sollten wir nutzen, um den Beruf nachhaltig zu stärken. Dazu haben mehrere Verbände der Pflege eine Online-Petition gestartet, die ich auch unterstütze. Darin fordern wir eine Verbesserung der Versorgungsqualität, die nur möglich ist, wenn wir auch die Arbeitsbedingungen für die Pflegefachpersonen verbessern. Pflege ist eine sehr verantwortungsvolle Tätigkeit und wir brauchen eine Personalausstattung, Qualifikation und Entlohnung, die dieser Verantwortung gerecht wird. Außerdem sollten Pflegefachpersonen so ausgebildet werden können, dass sie auch heilkundliche Tätigkeiten ausüben können.
„Neustart!“: Im Rahmen der Initiative „Neustart!“ wurde schon häufiger darüber diskutiert, wie der Pflegeberuf gestärkt werden könnte. Ist die „Community Health Nurse“ – als erste Ansprechpartnerin in der Nachbarschaft bei gesundheitlichen Fragen – eine Vision des Pflegeberufs, die sie auch unterstützen?
Gabriele Meyer: Auf jeden Fall. Gerade auf dem Land zeichnet sich jetzt schon ein absoluter Hausarztmangel ab. Ich erlebe das bei uns in Sachsen-Anhalt, es betrifft aber genauso andere Bundesländer. Gerade in den ländlichen Regionen kann die Community Health Nurse die Gesundheitsversorgung der Zukunft sichern und einen Teil der Daseinsfürsorge übernehmen. Zu dem Konzept gehören kommunale Gesundheitszentren, in denen den Menschen eine niedrigschwellige Grundausstattung an Gesundheitsleistungen angeboten wird. Wenn zusätzliche Leistungen erforderlich sind, werden sie weitergeleitet, zum Beispiel zum Facharzt oder in eine Fachklinik. Der Community Health Nurse kommt dabei eine zentrale Rolle zu.
„Neustart!“: Gibt es denn genug junge Menschen, die den Pflegeberuf ausüben wollen oder gibt es nicht auch hier große Nachwuchsprobleme?
Gabriele Meyer: Unter den gegebenen Bedingungen gibt es natürlich einen Mangel an Pflegenden. Gerade deswegen müssen wir den Beruf ja attraktiver machen. Ein Aspekt davon ist, dass Pflegefachpersonen mehr Verantwortung bekommen sollten. Das muss einhergehen mit besserer Qualifikation und einem Programm für lebenslange Weiterbildung, die in der Pflege noch nicht ausreichend institutionalisiert ist. Ich hoffe darauf, dass die Bundespflegekammer, die ja noch in der Entstehung ist, sich um dieses Thema kümmert. Ein anderer Aspekt ist gerechte Bezahlung. Es ist für junge Menschen, die vor der Berufswahl stehen, nicht nachvollziehbar, warum es regionale Lohnunterschiede bei gleicher Arbeit gibt. Es kann auch nicht sein, dass in der Altenpflege oft substanziell schlechter bezahlt wird als in der Krankenpflege.
„Neustart!“: Sie sind nicht nur Pflegewissenschaftlerin – Sie haben auch selbst in der Pflege gearbeitet. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?
Gabriele Meyer: Ich habe insgesamt 13 Jahre in der Pflege gearbeitet. Meine Erfahrungen dort haben mich inspiriert, später in die Wissenschaft zu gehen. Sie waren der Ausgangspunkt, um bestimmte Themen zu untersuchen, die mich bei der Arbeit empört haben. Das betrifft zum Beispiel die Fixierungspraxis, Übermedikation von Menschen mit Demenz oder auch das Thema Gewaltanwendung gegenüber Pflegebedürftigen. Leider sind diese Themen immer noch aktuell. Auch etwas anderes hat mich motiviert zu studieren und den Weg in die Wissenschaft einzuschlagen: Die ausgeprägten Hierarchien im Gesundheitswesen und die mangelnde Wertschätzung für die Pflege. Auch das Thema ist immer noch aktuell.
„Neustart!“: Frau Meyer, Sie sind Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, der die Politik auf Fehlentwicklungen aufmerksam machen soll. Welche Erfahrungen bringen Sie von da mit, die sie bei der Initiative „Neustart!“ einbringen können?
Gabriele Meyer: Grundsätzlich ist das Gesundheitssystem zwar schwerfällig, aber es lässt sich schon etwas bewegen. Manchmal dauert es zehn Jahre, bis Reformen umgesetzt werden, die die Sachverständigen eingefordert haben. Manchmal geht es aber auch schneller, beispielsweise bei dem Thema Notfallversorgung. Es lohnt sich also, gute Ideen zu entwickeln und dran zu bleiben. „Neustart!“ finde ich inspirierend, weil man in den Diskussionen mit Expertinnen und Experten aus ganz unterschiedlichen Fachrichtungen immer noch etwas Neues erfährt. Die Idee zur Einführung von Regionalbudgets für die Finanzierung von Gesundheitsleistungen finde ich zum Beispiel sehr interessant.