„Wir müssen die Menschen mitentscheiden lassen“
Interview mit Dr. Michael Lauerer vom Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften (IMG) an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth.
„Neustart!": Einer der zentralen Ansätze der Initiative Neustart für die Reform des Gesundheitswesens ist es, nicht erst auf Krankheiten zu reagieren, sondern Gesundheit frühzeitig zu fördern. Nutzen wir diese Möglichkeit in Deutschland bisher zu wenig?
Lauerer: Das kann man so pauschal nicht sagen, da es schon eine Menge Ansätze gibt – auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Diese müssten allerdings besser abgestimmt sein und konsolidiert werden. Darüber hinaus ist die Evidenzbasierung ganz wichtig: Wir müssen genauer erforschen, welche Maßnahmen zum Ziel führen. In anderen Bereichen der Medizin ist dies längst der Fall. Mein Eindruck ist, dass wir bei der Prävention und Gesundheitsförderung nicht auf dem neuesten Stand sind: Oft kommen Evaluationen zu kurz und es fehlt dann der wissenschaftliche Nachweis der Wirksamkeit von Maßnahmen.
„Neustart!": Wie gestaltet man Maßnahmen der Gesundheitsprävention zielführend?
Lauerer: Bei Präventionsprojekten ist es entscheidend, die Zielgruppe mit einzubinden. Wir haben im Rahmen einer Studie untersucht, welche Maßnahmen bei der Prävention von Übergewicht bei Jugendlichen erfolgreich sind. Herausgekommen ist eine Schritt-für-Schritt-Anleitung zur Umsetzung partizipativer Maßnahmen. Ein wichtiger Punkt dabei: Wenn Jugendliche an der Bedarfserhebung, Planung und Umsetzung eines Projektes beteiligt sind, dann nehmen sie die Maßnahmen besser an. Das gilt sicherlich nicht nur für Jugendliche. Wenn Präventionsprojekte partizipativ ausgerichtet sind und die Betroffenen befähigen, ihre eigenen Bedürfnisse einzubringen, sind die Erfolgsaussichten viel besser, als wenn bestimmte Maßnahmen schlicht vorgegeben werden.
„Neustart!": Jugendliche können relativ einfach in der Schule angesprochen werden. Aber wie erreicht man Erwachsene mit Präventionskampagnen?
Lauerer: Hier besteht eine zentrale Herausforderung: Mit Kampagnen erreicht man diejenigen am besten, die Gesundheitsförderung und Prävention am wenigsten brauchen. Menschen, die gesundheitsbewusst leben, suchen selbst nach Gesundheitsinformationen, zum Beispiel im Internet. Schwerer zu erreichen sind oft bestimmte vulnerable Gruppen, also Menschen, die hinsichtlich ihrer körperlichen oder seelischen Konstitution oder einer besonderen sozialen Situation besonders verletzlich sind. Das können Ältere sein, Menschen, die in prekären sozialen Verhältnissen leben oder Menschen mit Migrationshintergrund. Für diese Gruppen gibt es keine pauschalen Lösungen. Wir müssen vielmehr auf der Mikroebene schauen, wie man sie erreicht und einbezieht und welche Maßnahmen vielversprechend sind.
„Neustart!": Die Digitalisierung im Gesundheitswesen spielt im Rahmen der Reformwerkstatt eine zentrale Rolle. In der Coronavirus-Pandemie wurde deutlich, dass Deutschland hier nicht gerade Vorreiter ist. Wo müssen wir besser werden?
Lauerer: Wir müssen eine Balance finden zwischen den Erfordernissen des Datenschutzes und den Möglichkeiten, mittels digitaler Instrumente die Gesundheit der Menschen zu verbessern. Die Pandemie und die Corona-Warn-App machen deutlich: Wir haben vieles versäumt.
Auch Telemedizin kann eine sinnvolle Ergänzung klassischer Versorgung sein. Per App können etwa der Blutdruck übermittelt oder die Einnahme von Medikamenten kontrolliert werden. Digitale Instrumente können aber auch die Einbindung von Patientinnen und Patienten in ihre Therapie verbessern, wenn man zum Beispiel in einer digitalen Sprechstunde Fragen stellen kann, die einem erst nach dem Praxisbesuch einfallen. Da gibt es im deutschen Gesundheitswesen noch viel Luft nach oben.
„Neustart!": Bei unserem Think Lab waren Sie in der Arbeitsgruppe zum Thema „Gesundheit für die Bürgerinnen und Bürger vor Ort“. Wie haben Sie die Diskussionen erlebt?
Lauerer: Es ist immer fruchtbar, wenn Expertinnen und Experten gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern nach Lösungen suchen. Ich konnte dazu auch meine Erfahrungen aus meiner Heimat mit einbringen. Im Nürnberger Land gab es lange Diskussionen über die Schließung kleinerer Krankenhäuser. Die Menschen vor Ort sehen das oft als Bedrohung an. Aber es gibt ja nicht nur die Optionen Weiterbetreiben wie bisher und Schließen: So kann etwa die Überführung in einen „Gesundheitscampus“, der stationäre und ambulante Strukturen integriert, die Basisversorgung vor Ort sicherstellen. Wichtig ist, dass man die Menschen bei der Planung solcher Strukturen einbezieht und mit ihnen gemeinsam maßgeschneiderte Lösungen für die Region entwickelt. Was auf regionaler Ebene richtig ist, gilt ebenso für die Reform unseres Gesundheitswesens: Wir müssen die Menschen an Entscheidungen teilhaben lassen.