„Wir müssen die Regionen stärken“
Interview mit Birgit Fischer, frühere Gesundheitsministerin in Nordrhein-Westfalen, Vorstandsvorsitzende der Barmer GEK und von 2011 bis 2019 Hauptgeschäftsführerin des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller. Heute arbeitet sie als Health Consultant.
„Neustart!“: Frau Fischer, Sie haben am 6. Think Lab zum Thema Governance, also der Steuerung des Gesundheitswesens teilgenommen. Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit anderen Expertinnen und Experten erlebt?
Birgit Fischer: Sehr anregend! Es ist spannend, dass hier Menschen mit ganz unterschiedlichen Blickwinkeln zusammenkommen. Gerade deswegen hat es mich überrascht, wie groß die Schnittmengen sind, wenn es um Reformen geht: Wir waren uns einig, dass das Gesundheitssystem der Zukunft eine neue Form der Governance braucht. Wie genau die aussehen soll, darüber gab es Diskussionen. Aber der Konsens war, dass die Zeit reif ist für solche Veränderungen.
„Neustart!“: Welches sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen im Bereich Governance?
Birgit Fischer: Unser Gesundheitssystem ist bisher sehr stark auf Institutionen ausgerichtet, auch vergangene Reformen waren stets auf bestehende Einrichtungen fixiert, zum Beispiel auf Krankenhäuser. Wir brauchen aber heute ein integriertes Versorgungssystem, das als Netzwerk funktioniert. Wir müssen abrücken von rein numerischen Versorgungsstrukturen und die Angebote stärker nach den realen Bedürfnissen vor Ort ausrichten. Denn es gibt ja zum Teil große Unterschiede, zum Beispiel von Stadt zu Land, aber auch von Stadtviertel zu Stadtviertel. Für jede Region müssen wir schauen, ob das bestehende Netzwerk geeignet ist, die Bedürfnisse aller Menschen abzudecken, insbesondere der vulnerablen Gruppen.
„Neustart!“: Wie würden Sie dabei vorgehen?
Birgit Fischer: Wir müssen die Regionen stärken. Hier kennt man die Bedürfnisse der Menschen am besten, und es ist eine Verknüpfung aller relevanten Politikfelder möglich. Natürlich muss es politische Vorgaben geben, es darf nicht jeder machen, was er will. Aber wie diese Vorgaben umgesetzt werden, sollte regional entschieden werden. Als erstes sollten wir lokale interdisziplinäre und interprofessionelle Versorgungszentren einrichten. Hier sollten nicht allein die Behandlung von Krankheiten im Mittelpunkt stehen, sondern ebenso soziale und stadtplanerische Fragen. Welche Möglichkeiten für Freizeit und Bewegung gibt es in der Gemeinde? Gibt es einen hohen Anteil älterer, multimorbider Menschen oder anderer Gruppen, die besondere Fürsorge benötigen? Es gibt schon viele gute Ansätze, die zum Beispiel durch den Innovationsfonds umgesetzt werden. Aber bisher bleiben diese oft in den institutionellen Strukturen stecken.
„Neustart!“: Sie haben die Gruppe älterer Menschen angesprochen, die unter verschiedenen Krankheiten und Beschwerden leiden. Oft wird ihnen eine Vielzahl von Medikamenten verschrieben, deren Wechselwirkungen nicht immer ausreichend erforscht sind. Wie können schädliche Nebenwirkungen von Medikamenten besser vermieden werden?
Birgit Fischer: Leider ist die Versorgungsforschung in Deutschland immer noch unterentwickelt und es werden eher Gruppen behandelt und nicht einzelne Menschen. Die Digitalisierung gibt uns die Chance, viel besser auf jedes Individuum einzugehen. Dazu müssen wir aber systematisch Daten erheben und mit Hilfe von künstlicher Intelligenz auswerten. So lässt sich zum Beispiel die Unverträglichkeit verschiedener Medikamente erkennen. Aber auch in vielen anderen Bereichen eröffnet Big Data neue Möglichkeiten. Datenschutz ist im Gesundheitsbereich ein wichtiges Gut. Aber er darf nicht die Ausrede sein, um Forschung zu verhindern, die viele Menschenleben retten kann. Meine Erfahrung ist, dass Patientinnen und Patienten ihre Daten freiwillig für wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung stellen, wenn sie wissen, dass sie dazu dienen, eine Krankheit zu behandeln, an der sie selbst, aber auch andere Menschen leiden.