„Wir müssen etwas ändern, sonst bricht uns die Solidarität weg“
Think-Lab-Expertin im Interview: Prof. Dr. Ilona Kickbusch, Politikwissenschaftlerin und Beraterin für globale Gesundheit
„Neustart!“: Frau Kickbusch, Sie haben fast zwei Jahrzehnte für die Weltgesundheitsorganisation gearbeitet und sind als Beraterin weltweit gefragt. Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da?
Ilona Kickbusch: Das deutsche Gesundheitssystem gehört sicher zu einem der besseren. Eine gute Voraussetzung ist, dass es einen sozialen Vertrag für Gesundheit gibt und das System für die meisten Bürger zugänglich ist, auch wenn es Ausnahmen gibt. Deutschland hat qualitativ hochwertige Facheinrichtungen und gute Ärzte. Aber das Gesundheitswesen ist unflexibel und hinkt in Hinblick auf Innovation weit hinterher.
„Neustart!“: Woran liegt das?
Ilona Kickbusch: Das Gesundheitssystem ist extrem kompliziert, es gibt lange Abstimmungs- und Entscheidungsverfahren. Es gibt die Bundesebene, die Länderebene, die Krankenkassen und viele andere gut organisierte Akteure, die im Entscheidungsprozess berücksichtigt sein wollen. Der Grundgedanke, dass ein dezentrales System mehr Innovation zulässt, scheint hier nicht aufzugehen. Deswegen finde ich es gut, dass wir uns hier darüber Gedanken machen, wie wir das Gesundheitswesen so gestalten können, dass es flexibler auf sich ändernde Faktoren reagiert.
„Neustart!“: Das Think Lab diskutiert die Frage, wie sich die Zielgruppe der Gesundheitsversorgung unter dem Einfluss globaler Trends verändert, wie etwa Digitalisierung, Individualisierung, Klimakrise, Migration. Welcher Trend verdient Ihrer Meinung nach besondere Aufmerksamkeit?
Ilona Kickbusch: Es geht nicht darum, einen Trend hervorzuheben. Die verschiedenen Entwicklungen beeinflussen einander und verstärken sich zum Teil gegenseitig – darauf müssen wir uns einstellen. Die Individualisierung zum Beispiel führt zu immer stärker ausdifferenzierten Lebensstilen. Das wirkt sich auch auf den demografischen Wandel aus, der das Gesundheitswesen ja unmittelbar betrifft. Es gibt zum Beispiel längst nicht mehr „die Alten“, sondern alternde Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund, hetero- oder homosexuell, allein, als Paar oder in einer Wohngemeinschaft lebende Senioren. Alle haben unterschiedliche Bedürfnisse.
„Neustart!“: Kann sich das Gesundheitssystem auf so viel Vielfalt einstellen?
Ilona Kickbusch: Das müssen wir schaffen, denn sonst klinken sich diejenigen, die es sich leisten können, aus dem öffentlichen System aus und wenden sich kommerziellen Anbietern zu, die die Gesundheit ja als riesigen Markt längst erkannt haben. Für diejenigen, die kommerzielle Leistungen nicht bezahlen können, reicht es dann nur noch für eine Basisversorgung. Wir sind von der Konsumgesellschaft gewohnt, dass wir mit dem Smartphone alles auf Knopfdruck geliefert bekommen und verstehen dann immer weniger, warum wir in der Arztpraxis stundenlang warten müssen, bis wir endlich dran sind. Schafft es das Gesundheitswesen nicht, sich besser auf die Erwartungen der Menschen einzustellen, bricht uns die Solidarität weg.
„Neustart!“: Wie erleben Sie die Arbeit im Think Lab der Robert Bosch Stiftung?
Ilona Kickbusch: Ich finde die Idee gut, Experten aus unterschiedlichen Fachgebieten zusammen zu holen, um unabhängig von den üblichen Zwängen über Zukunftsperspektiven zu diskutieren. Wichtig ist aber auch, die Bürgerstimme zu hören. Wo sehen die Bürger Trends, die die Experten nicht sehen oder wo gibt es Bedürfnisse, die die Experten nicht erkennen. Daher bin ich sehr gespannt auf die nächste Phase der Reformwerkstatt, wenn die Ideen der Experten auf die der Bürger treffen.