„Wir wollen wirklich etwas ändern“
Lebhaft diskutieren Bürger:innen und Expert:innen darüber, wie das Gesundheitswesen der Zukunft aussehen soll.
Wie gestalten wir unser Gesundheitssystem so, dass es den Herausforderungen der Zukunft erfolgreich begegnen kann? Auf der Suche nach Antworten bringt die Initiative „Neustart! Reformwerkstatt für unser Gesundheitswesen“ Bürger:innen und Expert:innen zusammen. Am 5. Dezember stellten Teilnehmende der Bürgerdialoge ihre Kernbotschaften in der Hertie School in Berlin vor und diskutierten darüber mit den von der Robert Bosch Stiftung geladenen Fachleuten. Das Engagement beider Seiten war jederzeit spürbar und bestätigte die einleitenden Worte von Projektleiterin Anja Leetz: „Wir wollen nicht nur ein interessantes Projekt durchführen, wir wollen wirklich langfristig etwas zur Gesundheit der Menschen beitragen.“
Die Idee der Reformwerkstatt ist es, dass aus der Zusammenarbeit von zufällig ausgewählten Bürger:innen mit Expert:innen des Gesundheitswesens Reformvorschläge entstehen, die am Ende des Prozesses der Politik vorgelegt werden. Der „Bürgerreport 2019“ stellt erste Ergebnisse des Beteiligungsprozesses vor. Er dokumentiert die Resultate von fünf Bürgerdialogen, die im Mai 2019 in Kiel, Rostock, Köln, Freiburg und Nürnberg/Fürth mit rund 400 Teilnehmenden stattfanden. Jede Bürgerveranstaltung wählte Vertreter:innen, die sogenannten Bürgerbotschafter:innen, die die diskutierten Themen bei einem Redaktionstreffen zu einem Report verarbeiteten.
Prävention und Solidarität als Leitmotive
Zu den Kernforderungen der Bürger:innen gehören, dass die Prävention und Gesundheitsbildung gestärkt werden sollen und die individuelle Versorgung verbessert wird - durch geänderte Strukturen, aber auch indem den Ärzt:innen mehr Zeit für den einzelnen Patient:innen gegeben wird. Die Digitalisierung soll genutzt werden, um das Gesundheitswesen effizienter zu machen. Alle Gesundheitsleistungen sollen außerdem solidarisch finanziert werden und das Gemeinwohl Priorität vor privaten Geschäftsmodellen haben.
Im Bürgerreport werden die Forderungen konkreter. Beim Thema „Prävention und Gesundheitsbildung“ etwa, Gesundheits- und Präventionsbildung als neues Schulfach einzuführen. Das neue Berufsbild des „Präventionsberaters“ würde Menschen dabei helfen, gesünder zu leben. „Alltag und Lebensumfeld sollen für alle und in allen Bereichen so gestaltet werden, dass die Entscheidung für die gesündeste und nachhaltigste Alternative immer die einfachste und normalste ist – von der Ernährung über Mobilität bis zum Stressverhalten.“
Eine gemeinsame Sprache finden
In der Diskussion mit den Fachleuten wurde von Beginn an deutlich, dass es viele Gemeinsamkeiten zwischen den Forderungen der Bürger:innen und den Reformideen der Expert:innen gibt. Allerdings musste mitunter zunächst eine gemeinsame Sprache gefunden werden. „In der Fachsprache wird Prävention vor allem als Krankheitsprävention verstanden. Mit dem Präventionsberater ist aber wohl eher ein Gesundheitsberater gemeint“, sagte Professor Tobias Esch, Leiter des Instituts für Integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung an der Universität Witten/Herdecke. „Inhaltlich ist die Idee aber die gleiche, eine Profession zu schaffen, die dazu beiträgt, gesundes Verhalten zu fördern, auf eine Weise, die den Menschen auch noch Freude bereitet.“
Ein weiteres Beispiel, dass sich Bürger:innen und Expert:innen zuweilen erst auf eine gemeinsame Sprache verständigen mussten, zeigte sich im Bereich Digitalisierung. Der Bürgerreport fordert die Einführung einer digitalen Patientenakte: „Auf Basis eines einheitlichen und sicheren Datensystems sollten alle relevanten Gesundheitsdaten einrichtungsübergreifend zugänglich gemacht werden. Dadurch werden schnelle Hilfe und fundierte Diagnosen gewährleistet. Der Patient entscheidet über den Zugriff auf seine Akte.“ Thomas Kostera, Gesundheitsexperte der Bertelsmann-Stiftung, begrüßte die Forderung nach einer digitalen Patient:innenakte, wandte jedoch ein: „Um Akzeptanz herzustellen, braucht es überzeugende und gut kommunizierte Datensicherheitskonzepte.“ Eine zentrale Speicherung berge das Risiko, dass Daten gehackt werden könnten.
Den Bürger:innen ging es jedoch nicht darum, die Daten an einer zentralen Stelle zu speichern: „Es geht vielmehr darum, dass alle Akteure, die einen Patienten betreuen, auf seine Krankenakte zugreifen können. Die Daten können ja trotzdem dezentral gespeichert sein“, erläuterte einer der Bürgerbotschafter. „Wichtig ist, dass der bürokratische Aufwand reduziert und die Versorgung verbessert wird.“ Hier wurde der Werkstatt-Gedanke der Veranstaltung deutlich: Ideen der Bürger:innen, die noch nicht ganz klar formuliert sind, können durch die gemeinsame Arbeit mit den Expert:innen konkretisiert werden.
Gemeinwohl geht über privaten Profit
Die solidarische Finanzierung der Leistungen ist ein zentrales Anliegen der Bürger:innen. „Die Finanzierung darf nicht gewinn-, sondern muss bedarfsorientiert sein“, heißt es im Bürgerreport. „Das wollen wir durch eine einheitliche, verpflichtende Krankenversicherung für alle erreichen, in die jeder einen einheitlichen Prozentsatz seines Gesamteinkommens einzahlt.“ Bürgerbotschafter Hilger-Björn Hilgerloh betonte: „Es kann nicht sein, dass sich die Besserverdiener aus der Solidargemeinschaft der gesetzlichen Krankenkassen herausschleichen können.“ Eine breit aufgestellte Finanzierung soll auch dazu beitragen, die Qualität der Gesundheitsversorgung zu verbessern. „Die Ärzte sollen ausreichend Honorare bekommen, damit sie auch die Zeit haben, mit den Patienten zu sprechen“, ergänzte Bürgerbotschafterin Heike Seemann.
Jeweils eine Bürger-Experten-Runde diskutierte über eine Kernforderung des Bürgerreports. Am Ende des Tages präsentierte jede Gruppe, wie die Bürger:innenvorschläge durch das Feedback der Expert:innen weiterentwickelt wurde. Wolfgang Klitzsch vom Bundesverband Managed Care berichtete aus der Gruppe „Prävention und Gesundheitsbildung“: „Wir sind zu der Überzeugung gekommen, dass dieses Thema einen starken Fürsprecher in der Öffentlichkeit braucht. Wir schlagen die Schaffung einer 'Stiftung Gesundheit' vor, die mit einer halben Milliarde Euro ausgestattet sein sollte. Sie kann sich zum Beispiel dafür einsetzen, dass das Thema Gesundheit an den Schulen endlich die Rolle spielt, die es verdient.“
Die Diskussion im Rahmen der Initiative „Neustart!“ wird fortgesetzt: 2020 werden in weiteren Think Labs die gemeinsamen Ideen von Bürger:innn und Expert:innen genauer ausgearbeitet und die zweite Runde der Bürgerdialoge mit anderen Bürger:innen findet statt. Diese kommentieren dann die Empfehlungen der Expert:innen. Das Ziel: Bis 2021 will die Initiative, rechtzeitig vor der nächsten Bundestagswahl, die konkreten Vorschläge für eine Reform der Gesundheitsversorgung vorlegen.